Julian Sidig, Eigentümer und Coach des Crossfit- und Kampfsportstudios "Unterwelt" in Freising hat viele Jahre lang auch Kampfsport für Kinder unterrichtet und spricht mit uns über Sport, Disziplin und Selbstbewusstsein. Julian selbst war ein sehr unsicheres, ängstliches Kind und langjähriges Mobbingopfer, bevor er für sich selbst den Sport entdeckte.
Wir verzeichnen eine immer höhere Zahl an Angststörungen und generell psychische
Erkrankungen, auch bei Kindern. Es gibt viele Einflüsse und Gründe, aber nach neuesten
Erkenntnissen gehört auch unsere körperliche Betätigung dazu. Was hat das deiner Meinung
nach damit zu tun, dass wir uns immer weniger bewegen?
Wir werden als Gesellschaft Jahr für Jahr übergewichtiger und ungesünder. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir sind ein Körper. Unsere körperliche Leistungsfähigkeit auch bestimmt zu großen Teilen unsere kognitive und allgemeine Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft.
Längst wurde in zahlreichen, großen Langzeitstudien bestätigt, dass sich Bewegung und Sport nicht nur gut auf unsere Orthopädie (Knochen, Gelenke, Muskeln, Bänder etc.) sondern auch auf unser Herzkreislaufsystem, das Gehirn und unsere Psyche bzw. Laune auswirkt. Ich bin der Wissenschaft sehr dankbar, dass wir uns mittlerweile auf so viele verlässliche Daten beziehen können und es uns einfach gemacht wird, das Richtige zu tun. Und es ist simpel.
Wir fühlen uns am wohlsten und sind am gesündesten in unserem natürlichen Umfeld. Evolutionär
sinnvoll ernährt, draußen in der Sonne an der frischen Luft, barfuß auf der Erde, lachend – spielend –rennend mit unseren Freunden und Familie.
Hält sich ein Kind viel drinnen auf, isst Junkfood und wird wenig körperlich und geistig stimuliert,
entwickelt es sich zu einem ungesunden, unglücklichen und reaktiven Menschen.
Was bringt Sport konkret für Kinder, die eher ängstlich sind oder sogar unter Panikattacken
leiden?
Angst ist eine natürliche Emotion und aus gutem Grund in unser System eingebettet. Wir meiden alles, was uns Angst macht, damit wir nicht zu Schaden kommen. Angst vor einem wilden Tier ist evolutionär, weil dieses mich angreifen könnte. Angst vor einem großen Abgrund zu haben ist natürlich, ich könnte mich bei einem Sturz verletzen.
Eines muss uns jedoch klar sein: Irrationale Ängste stellen eine Schwäche im Alltag dar. Das ist nicht gut. Irrationale Ängste haben noch nie Jemandem im Leben weitergeholfen. Schwach zu sein ist in keiner Situation die bessere Alternative. Wir sind uns einig: gegen Angststörungen muss etwas unternommen werden.
Neben anderen Methoden hilft uns auch Sport, und zwar multidimensional: Gesunde, sportliche und starke Kinder sind immer selbstbewusster. Das Training und Erlernen von sportartspezifischen Bewegungen ist schwierig. Bemüht sich das Kind so, kann es lernen, dass harte Arbeit und Disziplin Früchte trägt und dies wird sich auf alle Bereiche des Lebens übertragen. Die einhergehende Gruppendynamik in Sportvereinen hilft Kindern dabei sich sozial weiterzuentwickeln und auszupowern. Ein müdes und glückliches Kind ist ganz sicher weniger ängstlich!
Wie kann ich starten, wenn mein Kind noch keiner Erfahrung mit Sport hat? Ich will es ja auf
keinen Fall demotivieren. Wenn ich mir ein unsportliches, vielleicht übergewichtiges und
unsicheres Kind in einem leistungsorientierten Verein vorstelle, wird das ganze vielleicht noch
schlimmer oder?
Harte aber herzliche Worte: Wenn sich mein Kind in meiner Obhut zu einem übergewichtigen und
schlecht sozialisierten Kind entwickelt hat, bin ich umso mehr im Zugzwang, mein Kind mit allem zu unterstützen was notwendig ist, um diesen gefährlichen Lebensweg zu verlassen.
Gewichtskontrolle findet zu 95% in der Küche statt. Kein Kind muss keiner speziellen Ausschluss-Diät folgen oder die Dinge kompliziert machen. Jeder von uns weiß, ob eine Banane oder ein Snickers die bessere Wahl für einen Snack ist. Jeder von uns weiß, dass Reis gesünder ist als Fast Food Pommes. Die Wahl wischen einem guten Steak und einer Dose Dosenfleisch fällt uns allen leicht, oder?
Ernähren Sie Ihr Kind verantwortungsvoll und helfen Sie beim Training, egal für welchen Sport es sich entscheidet. (Anmerkung der Waldschnecke: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, Sport zu treiben ohne eine starke Konkurrenzsituation, wie sie zum Beispiel beim Fußball auftreten kann. Wenn ich ein unsicheres Kind habe, suche ich einen Sport ohne Wettbewerb gegen andere, sondern nur mit Zielen für sich selbst) Sie wären schockiert, wenn Sie wüssten, durch welch eine bahnbrechende Transformation ein Kind über 6 Monate gehen kann. Ich habe jahrelang selbst Kinderkampfsport unterrichtet und verspreche Ihnen: Angst und Übergewicht hat keine Chance gegen gesunde Disziplin. Und Disziplin ist heutzutage oft negativ besetzt, wird gleich gesetzt mit Zwang, Gehorsam und Unterdrückung. Aber hier geht es um Konsequenz, um etwas Durchziehen und den anschließenden Stolz. Sie werden die Entscheidung niemals bereuen. Sport rettet Leben.
Gibt es deiner Meinung nach die Notwendigkeit, den Schulsport zu verändern? Wenn ja, wie?
Hervorragende Frage und: JA! Unser Schulsport braucht dringend eine Renaissance.
In allen naturwissenschaftlichen und linguistischen Fächern erstellen Lehrer einen Lehrplan mit
Grundkenntnissen und Lernziele für das aktuelle Schuljahr. Über das Jahr hinweg wird das angeforderte Wissen gelehrt und geprüft. Kann das Kind nicht in ausreichender Geschwindigkeit lernen, fällt es durch und muss das Schuljahr wiederholen.
Warum ist der Sportunterricht so willkürlich in seinen Bewertungen? Tatsächliche Leistung in Ballspielen ist schwer qualifizierbar und sehr stark von persönlicher Meinung anhängig. Wir benötigen ein System in dem wir festlegen, welche körperlichen Fähigkeiten wir von einem Kind in Klasse XY erwarten. zum Beispiel: 10 Sekunden an einer Stange hängen, 10 Kniebeugen ausführen, 1000m laufen, 800m schwimmen etc. Das mag auf den ersten Blick hart klingen, aber wir erwarten es - auf welche Weise auch immer - ja in allen anderen Fächern und auch in der beruflichen Ausbildung. Nur unseren Körper vernachlässigen wir! Das Ganze geht natürlich nur, wenn die Kinder im Sportunterricht Schritt für Schritt herangeführt und trainiert werden, und zwar mit Spaß und Motivation.
Des Weiteren empfehle ich mindestens 30 min Morgensport täglich als erste Stunde. Es gibt
ausreichend Studien zum Thema Sport und Gedächtnis. Das Treiben von insbesondere Ausdauersport trägt zu einer guten Hirnfunktion und einer verbesserter Gedächtnisfunktion signifikant bei. Mit einem solchen Konzept würde eine Grundfitness erreicht werden und dadurch wiederum eine bessere psychische Verfassung.
Letzte Frage, wie bei allen Interviewpartnern: was ist nach deiner Ansicht das Wichtigste
im Umgang mit kindlichen Ängsten?
Meiner Meinung nach können wir nicht verhindern, dass unsere Kinder mit Dingen oder Situationen konfrontiert werden, die ihnen Angst machen. Es gibt immer einen Bully in der Schule, einen wichtigen Test mit Leistungsdruck, ein Monster unterm Bett, Verlustängste oder sonstiges.
Wir können nicht 24/7 schwierige Situationen von unseren Kindern fernhalten.
Wir können lediglich unser Bestes geben, sie mit den notwendigen Fähigkeiten auszustatten, die sie
benötigen, um sich selbst zu helfen. Kinder haben keine Wahl: Sie müssen sich in ihr soziales Umfeld
einfügen und irgendwann auch alltäglichen Pflichten nachkommen. Irgendwann werden irgendwo Reibungen entstehen, das ist normal. Aber Probleme lösen können: Darauf kommt es an. Indem wir gesunde, widerstandsfähige und selbstbewusste Kinder großziehen, können wir sicherstellen, dass sie ihren Platz im Leben finden werden.
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